Die alte Frau Schönfeld
Mehr von der Gewohnheit, als vom Hunger getrieben deckte die alte Frau
Schönfeld den Frühstückstisch - sehr liebevoll, wie sie es früher auch für
ihre Familie getan hatte. Seit Tagen hatte sie keinen Appetit und auch heute
saß sie wieder lustlos vor ihrem Teller. Nach einer Weile seufzte sie und
räumte den Tisch wieder ab, ohne etwas gegessen zu haben.
Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie. Trotz ihrer 82 Jahre war sie
bis jetzt immer gesund, aber seit ungefähr einer Woche war irgendetwas
anders. Nicht das sie sich irgendwie schlecht fühlte oder schwach. Im
Gegenteil. Nur die Appetitlosigkeit beunruhigte sie. Sie beschloss, in den
nächsten Tagen zum Arzt zu gehen.
Als das Geschirr wieder im Schrank stand, nahm sie die Zeitung, setzte sich
in ihren Lieblingssessel und versuchte zu lesen. Die allmorgendliche
Lektüre war so ziemlich das Aufregendste in ihrem Leben. Ihre Wohnung
verließ sie höchstens mal, um in dem kleinen Laden, der nur drei Häuser
von ihrer Wohnung entfernt war, etwas einzukaufen. Ansonsten lebte sie
sehr zurückgezogen.
Wie so oft in den letzten Tagen schweiften ihre Gedanken in die
Vergangenheit. Sie dachte an ihren Sohn, den sie seit über 15 Jahren nicht
mehr gesehen hatte. Wo er jetzt wohl war? Während sie sich ausmalte, wie
Manfred heute wohl aussah und was er so tat, sah sie plötzlich ihre Tochter
vor sich. Anette war vor mehr als 30 Jahren bei einem Autounfall ums
Leben gekommen. Jetzt stand sie hier und lächelte ihrer Mutter zu. Für
einen kurzen Moment fühlte die alte Dame eine tiefe Trauer und wurde sich
schmerzhaft ihrer Einsamkeit bewusst, doch dann straffte sie sich und
schüttelte ärgerlich den Kopf. Das Bild ihrer Tochter war verschwunden.
Scheinbar werde ich langsam verrückt, dachte die Seniorin und legte die Zeitung
beiseite.
Energisch stand sie aus ihrem Sessel auf und wollte in die Küche gehen, als
sie an der Haustür ein Geräusch hörte. Es hörte sich an, als würde jemand
einen Schlüssel ins Schloss stecken. Zutiefst erschrocken und wie gelähmt
starrte die alte Dame auf die Tür, die sich tatsächlich zwei Sekunden später
öffnete.
Ungläubig sah sie, wie ihr Sohn die Wohnung betrat.
„Manfred!“, rief sie völlig überrascht. „Oh wie schön, das du da bist! Nach
so vielen Jahren! Wo kommst du her und was machst du? Du musst mir
alles ganz genau erzählen", sprudelte es aus der überglücklichen alten Dame
heraus. Während sie ihr Glück kaum fassen konnte, klopfte es an der
Haustür. Noch bevor Frau Schönfeld reagieren konnte, hatte Manfred sie
schon geöffnet und zwei Polizeibeamte standen davor.
„Kommen sie herein“, forderte Manfred die beiden Beamten auf. „Wir
setzen uns am besten ins Wohnzimmer.“ Vollkommen verwirrt und
sprachlos stand die alte Dame da und schaute von einem zu anderen.
„Was ist passiert?", hörte sie Manfred die beiden Polizisten fragen.
Der Polizeibeamte räusperte sich und antwortete dann: „Die Nachbarn stellten einen merkwürdigen Geruch im Haus fest, der immer schlimmer wurde. Auf der Suche nach der Ursache gingen sie auch
in den Keller. Dort fanden sie dann die Leiche ihrer Mutter. Sie muss schon
mehr als eine Woche dort gelegen haben....